Inhalt des Stücks

Bild Eins

Der Fleetenkieker überquert die Sandbrücke und stochert im Brookfleet. Der Zufall will es, dass er ausgerechnet den Teufel an den Haken bekommt.

Aus Entsetzen über die alten Hamburger Kaufleute, die ihn einst betrogen hatten, war er für Jahrhunderte im Schlamm der Zeit untergetaucht.

Der Fleetenkieker will seinen Fang zu Geld machen, verschwindet aber lieber, als plötzlich der Tod des Weges kommt. Der Teufel ist schockiert zu hören, welche gewaltigen Veränderungen er verschlafen hat: Der Himmel ist leer und der HERR nicht mehr da. Er will es nicht wahrhaben, denn seine teuflische Existenz wird abrupt bodenlos.

Als der Tod erwähnt, dass er den Jedermann, den reichen Mann aus der Kaufmannschaft, holt, wittert der Teufel seine Chance. Die Seele dieses Jedermann, er braucht sie jetzt unbedingt.

Bild Zwei

Eine Glocke hat geschlagen. Das Alte Mädchen und der Bauer aus dem Flachen Land haben sie gehört, im Gegensatz zu den gehetzten Leuten in der Stadt. Die beiden haben Obst und Gemüse auf dem Wochenmarkt verkauft.

Zu sehr, findet der Bauer, ist das Alte Mädchen nur am Gewinn interessiert, der nie genug ist.

Bild Drei

Der Teufel hat eine Show-Truppe angeheuert.

Sie zieht die Aufmerksamkeit von Jedermann und seiner Geliebten auf sich, so dass der Teufel, als alter Quartiersmann verkleidet, ein Geschäft einfädeln kann.

Jedermann, auf der Suche nach immer größeren Spekulationsmöglichkeiten, geht sofort auf das Angebot des vermeintlichen Konsorten ein, seine Seele gegen die Speicherstadt einzutauschen.

Ein phantastisches Geschäft, findet er, weil er doch gar keine Seele hat.

Bild Vier

Ein Trauermarsch von Trinkern, Huren und Obdachlosen macht Halt. Ein Mann mit einem Bauch-laden, in dem menschliche Körperteile liegen, folgt ihnen auf der Jagd nach Organen.

Sie, die gesellschaftlichen Verlierer, beschließen, den reichen Jedermann zur Rechenschaft zu ziehen.

Der Bauer und das Alte Mädchen kommen wieder vom Wochenmarkt zurück. Gegenseitig werfen sie sich vor, in den Mühen des Alltags ihrer Liebe nie Ausdruck gegeben zu haben.

Bild Fünf

Festliche Grundsteinlegung für das neue Projekt.

Der Kleine Mann, der Geld anlegen will, und der Schuldner, der seine Kredite nicht mehr ableisten kann, warten auf Jedermann.

Mit einer Grundsatzrede weist er den Schuldner ab, der keine andere Möglichkeit mehr sieht, als sein Leben im Fleet zu beenden.

Fröhlich trifft die Festgesellschaft ein. Der Teufel, als Bedienung getarnt, serviert Getränke.

Auf dem Höhepunkt der Stimmung ruft der Tod.

Die Gesellschaft verkrümelt sich und lässt Jedermann allein. Der Tod verkündet das nahe Ende.

Für den Teufel ist jetzt die Jagd auf die Seele des Jedermann eröffnet.

Bild Sechs

Der Bauer will nicht länger warten und verlangt seinen Anteil am gemeinsamen Geld. Gerade ist eines von diesen Stadtfesten, und einmal im Leben will er Spaß haben. Widerwillig und aus Sorge, ihn zu verlieren, folgt ihm das Alte Mädchen.

Bild Sieben

Jedermann, nach schlimmen Nächten, fertigt einen windigen Bestatter ab. Der Teufel klagt jetzt seinen Vertrag ein: Das letzte Interview. Er lockt bei Jedermann, der von Seelen-Geschwätz nichts hören will, tatsächlich Sehnsucht nach Unsterblichkeit hervor. Der Reihe nach zitiert Jedermann ihm vertraute Instanzen wie Okonomie, Technologie, Politik in Form allegorischer Figuren herbei. Doch jetzt werden sie ihm untreu. Jedermann begehrt auf und verlangt nach seiner Welt, in der es nur Wachstum, aber keinen Tod gibt.

Tatsächlich erscheint ein Ballett neckischer Produkte zusammen mit der Mortifikation, dem kalten Tauschwert aller Dinge. Der Teufel ist zutiefst entsetzt, in diesem Monstrum die Seele des Jedermann sehen zu sollen. Bei inneren Eigenschaften und Werten soll Jedermann nun seine Begleitung suchen, bei Ego und Arbeit. Beide versprechen tat-sächlich, bei Jedermann zu bleiben.

Geheime Sehnsüchte und Unausgelebte Wünsche erscheinen ebenfalls und werden widerstrebend angenommen, weil auch sie Teile der Persönlichkeit darstellen. Jedermann glaubt sich gerettet. Doch als sich die Luke zum Abgrund öffnet, springen auch die inneren Eigenschaften von ihm ab. Jedermann ist am Ende. Der Teufel glaubt sich am Ziel. Doch sein Fläschchen, mit dem er gewöhnlich die Seele einfängt, bleibt leer.

Verblüfft und ratlos weiß der Teufel nicht mehr wei-ter. Es kann einfach nicht sein, dass da keine Seele ist. Wieder fühlt er sich, wie damals, hintergangen.

In dieser Situation kommen der Bauer und das Alte Mädchen vom Stadtfest zurück – glücklich und beschwingt. Gegen alle Gewohnheit haben sie sich gehen lassen und genießen können.

Sie zögern nicht, dem fremden Stadtmenschen in seiner letzten Stunde zur Seite zur stehen.

Jedermann, in der Auflösung seiner Existenz, klammert sich an sie. Plötzlich vermeint der Teufel in einem blauen Flämmchen doch noch die ersehnte Seele aufscheinen zu sehen, doch bevor er sich ihrer bemächtigen kann, stürzt die Truppe der Obdachlosen und Huren herbei.

Ihnen ist zu Ohren gekommen, dass Jedermann hier zu finden ist. Er soll öffentlich zugeben, dass er und seinesgleichen schuld sind an aller Misere und allem Elend.

Ein Tumult entsteht. Mitten in den Kampf und in die Frage, was die Stadt und ihren Sinn eigentlich ausmacht, dröhnt der Ruf des Todes über das Was-ser: Jedermann!

Groß und eindrucksvoll betritt er den still gewordenen Schauplatz. Jedermann erhält den Todeskuss, der Tod führt ihn die Stufen hinunter zum Fleet. Die Glocke ertönt zum letzten Mal.

Der Teufel, im Augenblick der absoluten Einsamkeit und des völligen Scheiterns, fängt an zu singen:

„Weißt du, wie viel Sternlein stehen …?“ Das letzte Wort „Zahl“ brüllt er noch heraus, dann verschwindet er wieder im Untergrund und die Lichter gehen aus.

David Kindts Gemälde „Der reiche Mann und der Tod“ von 1622 – eine Warnung vor der Verführung durch den materiellen Reichtum.

Zur Geschichte des Jedermann-Motivs

Das Kernmotiv des Jedermann-Stoffes – die unvermittelte Konfrontation des Menschen mit dem Tod – gehört wegen seiner existentiellen Unaus-weichlichkeit zweifellos zu den zeitlos zwingenden Themen, die immer wieder auch nach sinnfälliger künstlerischer Veranschaulichung drängten.

Eindrucksvolle Zeugnisse dafür sind etwa die unter dem Eindruck verheerender Pestepidemien entstandenen Totentanzzyklen.

Neben die literarische und bildhafte Gestaltung tritt gegen Ende des 15. Jahrhunderts die erste sze-nisch-dramatische Bewältigung des Themas vom Sterben des Menschen: der wahrscheinlich zwischen 1461 und 1483 entstandene ‚Everyman‘ eines unbekannten englischen Verfassers und der vermutlich 1477 niedergeschriebene flämische ‚Elck-erlyc des Karthäuserpriors Petrus Dorlandus van Diest. Gemessen an den meisten späteren Dramatisierungen tritt hier der Sinngehalt des Jeder-mann-Themas in seiner einfachsten und zugleich ursprünglichsten Form hervor, noch ganz verwurzelt in der Frömmigkeit der vorreformatorischen Epoche.

Bedeutung erlangte vor allem die fast wortgetreue Übertragung von Hans Sachs, die später Hugo von Hofmannsthal als Vorlage für seinen „Jedermann“ diente.

Neben Holland und England erwies sich vor allem Deutschland dem Jedermann-Stoff besonders aufgeschlossen. Die weitere Beschäftigung mit dem Thema in deutschen Humanistenkreisen stand mehr oder weniger ausschließlich im Zeichen moraltheologischer Auseinandersetzungen, die ihr gelehrtes Publikum oftmals eher über den Druck als von der Bühne herab erreichten.

Der intensiven Rezeption des Jedermann-Stoffes durch die Humanisten folgte eine Zeitspanne von fast dreihundert Jahren, in deren Verlauf das Thema allenfalls sporadisch auf den Schulbühnen einzelner Jesuiten- oder Benediktinerniederlassungen aufscheint, um schließlich unter dem Einfluß der Aufklärung vollends zu verschwinden.

Erst der Beginn unseres Jahrhunderts brachte eine theatralische Neubelebung des Jedermann-Themas, die von reformfreudigen Regisseuren in England und Holland ausging und deren Ziel es war, alte Dramen in möglichst stilgetreuer historischer Ausstattung und Darstellung auf die Bühne zu stellen.

Die eigentliche Wiedergewinnung des Jeder-mann-Stoffes für die Bühne des 20. Jahrhunderts gelang Hugo von Hofmannsthal mit einer 1911 im Berliner Zirkus Schumann von Max Reinhardt uraufgeführten dichterischen Erneuerung des alten Moralitätenvorwurfs.

Seitdem ist es Aufgabe, bei der Behandlung des Stoffes neue und eigene Ansätze zu finden.